Trinitatis - 30. Mai 2021

Predigt zu Joh 3, 1-8

Vor einigen Tagen ist Eric Carle gestorben - vielleicht kennen Sie den Namen nicht sofort. Aber vermutlich kennen Sie eines seiner bekanntesten Bücher: die kleine Raupe Nimmersatt.

Die kleine Raupe frisst sich durch alle möglichen Dinge:

  1. Am Montag fraß sie sich durch einen Apfel, aber satt war sie noch immer nicht.
  2. Am Dienstag fraß sie sich durch zwei Birnen, aber satt war sie noch immer nicht.
  3. Am Mittwoch fraß sie sich durch drei Pflaumen, aber satt war sie noch immer nicht.

Und so weiter - jeden Tag ein bisschen mehr.

Am Samstag erreicht ihr Hunger seinen Höhepunkt: sie frisst sie die unterschiedlichsten Lebensmittel und fühlt sich danach schlecht. Am Sonntagmorgen frisst sie nur ein grünes Blatt und da geht es ihr viel besser. Danach hört sie auf, zu fressen; sie verpuppt sich in ihren dunklen Kokon und schlüpft nach zwei Wochen  als Schmetterling.

Die Dunkelheit ist der Ort der Veränderung.

Die Nacht ist der Ort der Krise.

Die Nacht ist der Ort des Neuanfangs.

Die Nacht ist die Zeit, in der wir unser Leben betrachten und es Revue passiern lassen.

Die Zeit, in der sich all unsere Dämonen regen, alle Ängste zu Wort melden.

In der Nacht verstummt die Vernunft - und die Welt steht Kopf.

Nachts überfallen uns unsere Fragen - und wir machen uns auf den Weg, Antworten zu finden.

Wie Nikodemus.

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Ich glaube, es ist kein Zufall, dass dieses Gespräch in der Nacht stattgefunden hat. Nikodemus gibt sich eine Blöße, als er kommt, um Fragen zu stellen. Er gehört zu denen, die Jesus ablehnen - aber er ist in der Krise. Auf der Suche nach einem Neuanfang.

Jesus soll helfen, soll den Übergang erleichtern, ihn überhaupt möglich machen.

Die Nacht verbirgt beide vor den Augen der Welt - lässt Nikodemus mit anderen Augen sehen. In der Nacht sind alle Katzen grau - das Trennende verschwimmt, Grenzen werden undeutlich.

Und Nikodemus nutzt seine Chance.

Er ist Pharisäer - lässt sich von seinen Fragen leiten. Das ist seine Bestimmung.

Sein Ziel, sein Weg.

Das ist sein Leben.

Am Tage lernt und wächst in der Beziehung zur Welt und den Menschen. Aber er ist noch immer nicht satt.

An jedem Tage sucht er nach neuem Wissen über Gott und sich selbst. Aber er ist noch immer nicht satt.

Denn die Fragen werden nicht vergehen, wenn sie einmal in der Welt sind.

Sie nehmen zu, werden vielfältig, loten alle Bereiche des Lebens aus.

Eine Frage ergibt sich aus der nächsten - und die Antworten folgen nicht auf dem Fuß.

Oder sind schwer verdaulich.

Das ist meistens nicht so schlimm.

Am Tag verhüllt die Zuversicht die Schatten.

In der Nacht aber liegt das Leben nackt und bloß vor uns, dominiert unsere Verletzlichkeit.

Und die Frage nach seiner Vergeblichkeit wird offenbar.

Wir alle haben Fragen an das Leben - und suchen nach Antworten.

Manchmal lassen sie uns wachsen - über uns hinaus.

Manchmal bremsen sie uns aus, machen uns ängstlich und hilflos.

Und manchmal sind sie der erste Schritt auf dem Weg in die Veränderung.

Manchmal überfressen wir uns daran - wollen alles auf einmal wissen, nehmen uns keine Zeit, die Antworten zu verdauen.

Dabei brauchen wir das Fragen so notwendig wie die Raupe ihr Futter. Ohne Fragen nehme ich das Leben einfach nur hin, akzeptiere irgendwelche Antworten, die aber vielleicht gar nicht meine sind - weil ich ganz andere Fragen stellen würde.

Im letzten Jahr habe ich viele Fragen gestellt und viele Fragen gehört: Wann machen wir wieder auf? Wann kann ich endlich wieder in den Biergarten? Wann werde ich geimpft? Wann fängt das Leben endlich wieder an?

Mittlerweile gibt es Antworten auf viele dieser Fragen - keine endgültigen, aber vorläufige. Und doch habe ich oft das Gefühl, dass ich zwar die Antworten höre - aber die Fragen gar nicht meine waren.

Wir dürfen uns wieder mit Freunden zum Spieleabend treffen - aber wir verabreden uns stattdessen eventuell auf irgendwann im Sommer.

Die Geschäfte sind auf - aber ich brauche das neue Kleid eigentlich gar nicht so dringend.

Mittlerweile sind alle Großeltern geimpft - aber vielleicht halten uns wir doch lieber noch zurück.

Es ist, als hätten mich Antworten mit einem falschen Geist ergriffen. Einem Geist der Trägheit, der uns schwer im Magen liegt. Uns elend macht und jedes neue Leben gar nicht erst aufkommen lässt. Die Antwort ist da - aber sie verleiht mir keine Flügel, sondern ich bleibe im Kokon stecken.

Und vielleicht liegt das daran, dass ich die falsche Frage gestellt habe. Dass ich immer nur nach dem „wann“ gefragt habe - und nie nach dem „Wie“.

Vielleicht  war ich im tiefsten Inneren gar nicht bereit, mich verändern zu lassen - sondern wollte gerade im Alten verharren - in dem, was immer schon war.

Nikodemus gelingt es, die eine wesentliche Frage zu stellen - die alle anderen beinhaltet. Die seinen Hunger stillt. Woher komme ich und wohin gehe ich?.

Die Frage danach, wer hält mich fest in den hochfliegenden Zeit des Lebens und macht mir Beine, wenn ich am Boden bin.

Die Frage nach dem, was mich am Tag neu belebt und in der Nacht hoffen lässt.

Stelle ich diese Frage, dann wird mir klar: Der Biergarten schenkt keine Hoffnung - aber das Miteinander im Erleben tut es.

Das neue Kleid belebt mich nicht - aber ein Blick auf die kleinen und großen Schönheiten im Alltag tut es.

Die Impfung verleiht mir keine Flügel - aber die Möglichkeit, einander ohne Abstand zu begegnen, die tut es.

Das Leben hängt nicht davon ab, ob und wann ich einkaufen, ins Lokal gehen oder Freunde treffen kann - aber all das weht wie ein frischer Wind durch mein Leben. Es lässt mich die Liebe in meinem Leben spüren und die Freiheit, ein Kind Gottes zu sein.

Es begeistert mich und ich fühle mich wie neugeboren nach einem Bad in Freundschaft und Gemeinschaft.

Dieser Geist macht mich nicht träge und er sperrt mich nicht ein und lässt mich nicht in meinem Kokon aus Unsicherheit stecken - sondern er begleitet mich in die Verwandlung hinein. Er hilft mir, den Tod des Alten hinter mir zu lassen, zusammen mit meiner Angst vor der Vergeblichkeit.

Und er verwandelt mich in einen neuen Menschen - geboren aus neuem Geist und geschickt zu einem neuen Aufbruch.

Amen.