Reformationstag - 31.10.2021

Predigt zu Gal 5, 1-6 (Reformation 21)

 

„Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ -

Ich wünschte, dieser Satz wäre mir als Teenager eingefallen.

Denn damals habe ich mich von meinen Eltern schon sehr eingeschränkt gefühlt in meiner persönlichen Freiheit. Da hätte ich so einen Satz gut brauchen können! Oder besser: solche Sätze:

 

Ich bin zur Freiheit befreit - und entscheide  selbstständig für mich, was ich tue.

Ich bin zur Freiheit befreit - Also kann ich mir meine eigene Meinung bilden.

Ich bin zur Freiheit befreit - also  kann ich glauben, was ich möchte

Ich bin zur Freiheit befreit - also  habe ich einen freien Willen.

 

Ich bin zur Freiheit befreit - also  muss ich nicht alles nachreden und nachmachen, was andere tun und sagen

„Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ -

Auch Paulus möchte von alter Gesetzlichkeit befreien. Es geht ihm um die Freiheit der neu gefundenen Christen - dass sie sich nämlich nicht an jüdische Tora-Vorschriften halten müssen, um Christen zu sein.

Keine Beschneidung, keine Speisegebote, kein kompliziertes Regel- und Gesetzeswerk. Das ist alles nicht nur überflüssig, sondern sogar schädlich, denn es hält die Menschen von der Erfahrung echter Gnade fern - der Glaube allein genügt.

Und heute?

„Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ -

Die katholische Jugend ist im Reformationsmodus: Sie möchte Gott ab sofort als Gott* gendern, gendern, „weg von dem strafenden alten weißen Mann mit Bart hin zu einer Gottes*vielfalt“.

Paulus‘ Zur Freiheit hat uns Christus befreit - wird hier zur glaubensbefreienden Vielfalt.

Damit sind sie in guter Gesellschaft; denn das Gendern ist die Reformationsbewegung unserer Zeit. Gendern insgesamt möchte unsere Sprache und Denke von alten Gesetzlichkeiten befreien - hin zu einer neuen Wahrnehmung der Wirklichkeit. Das Sternchen verweist auf tatsächliche Vielfalt, die unsere Vorstellungen übersteigt - steht für das Bewusstsein,  dass nicht alle Menschen über ein Geschlecht bzw. einen Glauben geschert werden können.

So gesehen hat das kleine Gender* fast schon Heilscharakter - es führt zwar nicht nach Bethlehem, aber zeigt doch mindestens den Weg in Richtung einer besseren, freieren und gerechteren Welt, die wir uns auch noch selbst schaffen können.

Oder etwa doch nicht?

Ein markantes Beispiel dafür gibt die Hansestadt Lübeck. Sie möchte den neuen Heilszustand so schnell wie möglich erreichen und hat dazu einen Leitfaden für gendersensible Sprache herausgegeben.

Vieles, was hier überlegt wird, ist gut und sinnvoll. Vor allem dann, wenn sperrige Formulierungen umgeschrieben und bürokratische Texte dadurch ein bisschen menschenfreundlicher gestaltet werden: z.B.:

Nicht: Es gab 20 Teilnehmer und Teilnehmerinnen - sondern: teilgenommen haben 20 Personen.

Nicht: Unterstützung durch Kolleginnen und Kollegen - sondern: kollegiale Unterstützung.

Einfache Lösungen - mit mehr Sprachfreiheit und plastischeren Vorstellungsräumen.

Dann aber lese ich an anderer Stelle, Personenbenennungen in Funktions- oder Kollektivbezeichnungen umzuändern: Leiter und Leiterin werden zur Leitung; die Fachfrau wird zur Fachkraft, die Lehrerin zur Lehrkraft und aus dem Schirmherr wird die Vertretung der Schirmherrschaft.

Um Festlegungen auf Geschlechter zu vermeiden, werden Individuen entpersonalisiert, statt ihres Geschlechtes auf ihre Funktion reduziert und nur noch als Teil eines Kollektivs wahrgenommen.

Zur Freiheit hat uns Christus befreit? - auch wenn ich nicht mehr als ICH wahrgenommen werden darf?

Und wieder an anderer Stelle heißt es: „Oft hört man im Alltag, dass Frauen von sich in der männlichen Form reden. Doch um zur eigenen Weiblichkeit zu stehen, muss nur auf Kleinigkeiten geachtet werden.“ So soll eine Frau nicht mehr  von sich selbst sagen: Ich bin jemand, der …dieses und jenes tut - sondern: Ich bin eine, die … dieses und jenes tut.

Zur Freiheit hat uns Christus befreit? - auch wenn ich nicht mehr selbst bestimmen darf, wie ich von mir rede?

Gendersensibel sein, denken und reden ist richtig und gut. Aber der eigentliche Sinn dahinter ist doch, den Menschen frei zu machen, sich gegenseitig in ihrer jeweiligen Identität wahrzunehmen und darzustellen.

Doch da, wo der Einzelne befreit werden soll - da wird in Wirklichkeit der Einzelne in Fremdbestimmung gezwungen und das je Eigene durch sprachliche Vorgaben zum Schweigen gebracht. Ich muss alles nachreden, was andere sagen; meine eigene Meinung will niemand hören.

Mein eigener freier Wille ist nicht gefragt.

Und die Gnade der echten Selbstbestimmung und Wahrnehmungsfreiheit wird mir dadurch auch genommen - denn wie kann ich sicher sein, dass mein Gegenüber MICH wahrnimmt und nicht lediglich sprachliche Verordnungen erfüllt?

Zur Freiheit hat uns Christus befreit!

Aber das Streben danach bleibt oft nur der erneute Versuch, uns selbst gerecht zu sprechen.

Und das führt nicht zum Erfolg. Sondern zeigt im Ergebnis nur auf, dass wir es eben nicht aus eigener Kraft schaffen, eine heile Welt zu schaffen, sondern immer wieder scheitern.

Das Gendern ist hierfür nur ein Beispiel - letztlich gilt das aber für alle unsere Bemühungen. Egal, wie gut und richtig unsere Absicht ist. Wir laufen immer Gefahr, uns selbst zum Heilsgaranten zu machen - und keinen Raum mehr daneben zu lassen. Nicht für die Freiheit der anderen, nicht für die Liebe. Nicht für die Gnade.

Zur Freiheit hat uns Christus befreit - aber eben nicht zu ihrem Maßstab. Und nicht zu ihrem Garanten.

Der ist etwas anderes:

Denn in Christus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.

Darauf kommt es an: auf Glaube und Liebe.

Auf den Glauben, weil er gerade verhindert, dass wir uns als das Maß aller Dinge sehen. Im Glauben sind wir bezogen auf Jesus Christus - er ist der Maßstab unseres Handelns und unserer Vorstellung, unserer eigenen Identität und unserer Wahrnehmung anderer.

Und er ist der Maßstab durch die Liebe, die ihn  in diese Welt gebracht und die ihn hier gehalten hat.

Die Liebe, durch die er uns ansieht.

Die den anderen in den Blick und sich selbst zurück nimmt.

Die achtsam ist mit den Bedürfnissen der Menschen, die uns begegnen.

Die niemandem eine Vorstellung oder eine Identität aufdrückt.

An diese Liebe zu glauben und den Mut zu diesem Glauben zu lieben - das ist die Freiheit, zu der wir befreit sind. Und das ist die einzige Reformation, zu der wir gerufen sind.

Amen.