Predigt zu Jes 65, 17-25 (Ewigkeitssonntag)
„Ich hätte meinem Staat niemals zugetraut, so unbarmherzig zu sein“ - das ist der Titel einer Kolumne von Kristina Schröder.
Sie erinnern sich? CDU-Mitglied, Bundestagsabgeordnete und ehemalige Familienministerin.
Sie hat in der letzten Woche in der Welt Online einen Text veröffentlicht - und beklagt die unbarmherzige Rigorosität des Staates in der Pandemie.
Besuchsverbote, Absage aller Veranstaltungen - egal ob Großereignisse oder nur der Martinsumzug des eigenen Kindergartens.
Frau Schröder trauert, denn sie erinnert sich. An ein Leben vor Corona. An Gemeinschaft und Miteinander und Leichtigkeit. Sie trauert um Verlorenes - um verlorene Nähe, um verlorene Beziehungen, um verlorenes Leben.
Und sie träumt - von einer Gesellschaft, die sich erinnert, wie es ist, barmherzig zu sein.
Wir trauern auch - um die, die uns verlassen haben. Wir stehen an den Gräbern, den Tod vor Augen. Wir nehmen Abschied von gemeinsamem Leben, von gemeinsamen Träumen.
Wir erinnern uns an Vergangenes und hoffen, dass wir die Zukunft noch nicht verloren haben.
Wir werden sein wie die Träumenden und unser Mund wird voll Lachens sein.
So wird sie sein, unsere Zukunft - und sie ist zweierlei:
Wie die Träumenden - das drückt die Spannung aus, in der wir stehen, zwischen Hier und Dort - zwischen alter Erde und neuem Himmel.
Wie die Träumenden - das kann sein: wenn alles verschwindet, was uns gefangen hält - wenn alle Furcht, alle Angst, alle Trauer und alle Einschränkung verschwunden ist - dann ist aus unserer Hoffnung Wirklichkeit geworden. Und wir staunen über das neue Leben und es ist uns, als träumten wir.
Wie die Träumenden - das kann aber auch heißen: alles, was uns gefangen hält, verschwindet nur, wenn wir weiter träumen, nicht aufhören damit - wenn wir anträumen gegen alle Trauer, alle Angst, alle Beschränkung. Nur wer träumen kann, kann auch hoffen - und nur wer hoffen kann, kann so verrückte Träume haben wie die Erlösung zu neuem Leben.
Jeder Tod, den wir betrauern, stellt uns in diesen Zwiespalt hinein.
Denn unsere Trauer speist sich aus Erinnerungen - an das, was war. An die, die wir verloren haben.
Als meine Großeltern gestorben sind, war ich erst zwölf. Und ich habe sicherlich vieles vergessen von dem, was sie gesagt und getan haben. Aber ich habe nicht vergessen, wie sie aussahen. Nicht vergessen, wie ihre Stimmen klingen. Nicht vergessen, wie die Stumpen meines Großvaters das Wohnzimmer verräuchern.. Nicht vergessen, wie meine Oma ihren neuesten Strumpf zum Maßnehmen an mich hält mit den Worten: „Kumm a mol haar, ich will dir ebbes weis.“
In meiner Erinnerung sind sie noch da. Leben noch in dem Haus, in dem meine Eltern jetzt leben. In dem ich selber groß geworden bin.
In meiner Erinnerung ist die Zeit stehen geblieben - das Vergangene bewahrt. Und ich selbst kann weitergehen - mein Leben leben. Und ab und zu einen Blick über meine Schulter in die Vergangenheit werfen.
Diese Erinnerung will ich nicht verlieren.
Diese Erinnerung lebt immer wieder auf, wenn wir einander davon erzählen: wie er war.
Was sie immer gesagt hat. Was wir gemeinsam immer getan haben.
In diesen Erinnerungen sind wir wie die Träumenden. Wir staunen über die Barmherzigkeit gemeinsamen Erlebens. Wir lachen und weinen gemeinsam - und erleben für einen kleinen Moment, wie die Trauer kleiner wird, die Hoffnung zurückkehrt.
Aber es gibt auch andere Erinnerungen - die albtraumhaften.
Gezeugt aus Angst und Schuld und geboren in der Dunkelheit. Sie lassen unser Lachen im Halse stecken.
Und sie sorgen für ein Leben ohne Lichtblicke - ohne hoffnungsvolle Momente voller Leichtigkeit.
Das sind Erinnerungen, die uns hindern, weiterzuleben. Die uns festhalten in der Vergangenheit, uns einschnüren in ihrem Kokon. Die uns vorspielen, wir hätten keine Zukunft im Neuen - sondern nur ein Bleiben im Alten.
Erinnerungen an vergangene Schuld - an gescheiterte Beziehung. An eigene Versäumnisse.
Angsterfüllte Erinnerung - davor, die eigene Vergangenheit zu verlieren.
Erinnerungen an Unfertiges - die hindert, Neues anzufangen.
Gegen sie anzuträumen, ist schwer - und manchmal fast unmöglich.
Um zu hoffen, brauchen wir Träume - aber nicht alle Träume lassen uns hoffen, nicht jede Erinnerung führt uns in eine lebendige Zukunft. Manche Träume müssen wir vergessen - mancher Erinnerungen dürfen wir nicht mehr gedenken und sie uns nicht mehr zu Herzen nehmen.
Solche Träume zu vergessen, solche Erinnerungen loszulassen, nicht immer einfach.
Aber heilsam.
Denn wir brauchen sie, solche Zeiten - in denen unser Mund voller Lachens sein kann. In denen wir alles hinter uns lassen können, was uns belastet. Nicht mehr daran denken müssen und es uns nicht mehr zu Herzen nehmen.
Zeiten, in denen die Hoffnung auf die Zukunft die Angst vor ihr besiegt.
Augenblicke, in denen wir nicht ganz sicher sind, ob wir noch träumen oder schon einen Blick in diese Zukunft hinein erhaschen.
Vielleicht trauern wir deswegen auch um die geschlossenen Weihnachtsmärkte - weil uns die Lichtpunkte für unsere Hoffnungen fehlen. Weil mit ihnen auch die Erinnerung an verlorenes gemeinsames Leben verschlossen bleibt.
Unsere Träume keine neue Nahrung erhalten. Und wir darüber erschrecken, dass wir das Leben nicht festhalten können.
Aber all das verlieren wir nicht auf Dauer.
Es bleibt Teil unserer Geschichte, fließt ein in unsere Erzählungen.
Lebt weiter in unseren Gedanken und Gebeten.
Und daraus entstehen wir jeden Tag neu. Aus dem Gewebe unserer Erinnerungen wächst neue Hoffnung und entstehen neue Träume. Für ein anderes Morgen.
Für einen neuen Himmel und eine neue Erde.
In der wir nicht mehr hoffen müssen. Sondern mit wachen Augen das einst Unmögliche sehen und mit offenem Sinn das einst unvorstellbare erleben - und nicht mehr hören die Stimme des Weinens noch des Klagens.
In der wir nicht mehr träumen müssen. Sondern unser Mund voll Lachens sein wird und unsere Zunge voll Rühmens.
Weil kein Tod mehr sein wird noch Leid noch Geschrei noch Schmerz - denn alles ist neu.
Amen.