3. Sonntag nach Epiphanias - 24. Januar 2021

Predigt zu Rut 1, 1-19

Januar.

Mitten im tiefsten Winter - auch ohne Schnee.

Die Tage sind trüb, die Menschen sind müde.

Erschöpfte Kassiererinnen im Supermarkt, Pflegepersonal am Limit, Eltern an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit. Überforderte Schüler, resignierte Gastwirte, verzweifelte Alleinstehende.

Da möchte man sich manchmal einfach nur gegenseitig in den Arm nehmen.

Passend dazu war am Donnerstag der National Hugging Day - der „Weltknuddeltag“.

Tag der Umarmung.

Denn Umarmungen sind wichtig - Wer in den Arm genommen wird, fühlt im besten Fall Vertrauen, Zuneigung, Sicherheit und Trost. Wenn wir umarmt werden, dann schüttet unser Körper Glückshormone aus - das ist gut für Körper und Seele und damit für die Gesundheit - sagt die Wissenschaft.

Das leuchtet ein:

Umarmungen sind Entgrenzungen - wir umarmen uns und heben die Grenze zwischen uns auf. Nicht lange - vielleicht nur für ein paar Sekunden. Aber wir kommen dabei einander nahe.

Ich werde umarmt - und fühle mich geborgen.

Ich umarme selbst - und ziehe Kraft aus der Nähe zu einem Menschen. Die Beziehung baut mich auf. Die Umarmung macht mich glücklich. Und wenn Schwierigkeiten auftauchen, dann ziehe ich auch dafür die nötige Stärke aus den Umarmungen meiner Familie, meiner Freunde. Denn ich weiß - und ich spüre: ich bin nicht alleine.

Umarmungen sind also wichtig - lebenswichtig. Für alle Beteiligten.

Wie bei Naomi. Sie hat Glück.

Sie hat einen Mann, eine Familie, der sie verbunden ist. Menschen, die sie umarmen kann und von denen sie in die Arme genommen wird. Auch in schweren Zeiten - und die gibt es in ihrem Leben immer wieder:

Denn zu der Zeit, als die Richter richteten, entstand eine Hungersnot im Lande. Und ein Mann von Bethlehem in Juda zog aus ins Land der Moabiter, um dort als Fremdling zu wohnen, mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen. Er hieß Elimelech und seine Frau Noomi und seine beiden Söhne Machlon und Kiljon; die Efratiter aus Bethlehem in Juda. Und als sie ins Land der Moabiter gekommen waren, blieben sie dort.

Bestimmt keine leichte Zeit für Noomi - ohne Familie, ohne Heimat, eine Fremde in fremdem Land. Aber sie ist nicht allein, sie hat ihren Mann und ihre Kinder. Umarmungen also gesichert, Zuspruch und Mut für alle - und genügend Kraft, das Leben zu meistern.

Aber die Zeiten ändern sind:

Und Elimelech, Noomis Mann, starb, und sie blieb übrig mit ihren beiden Söhnen.

Plötzlich ist sie alleine, ohne Partner. Ohne die helfende Hand, das liebende Herz an ihrer Seite. Ohne seine festen Umarmungen, ohne seinen Trost und Beistand. Ohne  Glückshormone.

Umarmen kann sie nur noch die Söhne - für die sie jetzt alleine verantwortlich ist. Ihre Kraft, ihre Stärke zieht sie aus dem Glück vergangener Tage - ihre Arme müssen die des Vaters ersetzen.

Für sie selbst bleibt wenig - die Umarmungen des Mannes kann ihr niemand ersetzen - auch die Söhne nicht - denn die sind groß geworden.

Aus den Kindern, die gestern noch auf ihrem Schoß gesessen und sich in ihre Arme gekuschelt haben, sind erwachsene Männer geworden, die ihr eigenes Leben führen, ihren eigenen Weg gehen:

Die nahmen sich moabitische Frauen; die eine hieß Orpa, die andere Rut.

Noomi ist nicht länger die sorgende Mutter, die mit ihren Umarmungen ihren Kindern Trost und Halt gibt. Jetzt ist sie diejenige, die liebevoll sorgsam von den Söhnen und Schwiegertöchtern in den Arm genommen wird. Vielleicht sogar am Arm - um über stolprige Wege zu helfen, beim Aufstehen zu unterstützen.

Doch auch diese Umarmungen ändern sich - fallen weg:

Denn als sie ungefähr zehn Jahre dort gewohnt hatten, starben auch die beiden Söhne, Machlon und Kiljon. Und Noomi blieb zurück ohne ihre Söhne und ohne ihren Mann.

Jetzt sind sie alle alleine - kinderlos, verwitwet. Ohne Versorger. Ohne Einkommen. Ihre Arme geben einander nur Trost in der Trauer - aber Noomi zieht daraus keine Kraft mehr für ihr Leben in der Fremde.

Es hält sie keine Umarmung mehr zurück - also geht sie. Zurück nach Hause.

Da machte sie sich auf mit ihren beiden Schwiegertöchtern und zog aus dem Land der Moabiter wieder zurück; und sie ging aus von dem Ort, wo sie gewesen war und ihre beiden Schwiegertöchter mit ihr.

Und als sie unterwegs waren, sprach sie zu ihren beiden Schwiegertöchtern: Geht hin und kehrt um, eine jede ins Haus ihrer Mutter. Der Herr tue an euch Barmherzigkeit, wie ihr an den Toten und an mir getan habt. Und sie küsste sie.

Da erhoben sie ihre Stimme und weinten und sprachen zu ihr: Wir wollen mit dir zu deinem Volk gehen. Aber Noomi sprach: Kehrt um, meine Töchter! Warum wollt ihr mit mir gehen? Wie kann ich noch einmal Kinder in meinem Schoße haben, die eure Männer werden könnten? Kehrt um und geht hin!

Und wenn ich auch dächte: ich habe noch Hoffnung und Söhne gebären würde - wolltet ihr warten, bis sie groß würden? Nicht doch, meine Töchter! Mein Los ist zu bitter für euch, denn des Herrn Hand hat mich getroffen.

Noomis Umarmung ist eine besondere: Sie zieht die beiden an ihr Herz - um sie dann mit aller Kraft von sich zu stoßen. Weg von ihr, hinein in ihr eigenes Leben - zu neuen Männern, eigenen Familien. Hinein in ihr eigenes neues Glück - an dem Noomi selbst keinen Anteil mehr hat.

Es gibt viele solcher Umarmungen - aus Liebe getan und doch mit Abschied im Herzen. Wenn die eigenen Kinder flügge sind, ihren eigenen Weg finden müssen. Dann würden wir sie am liebsten an uns drücken, in uns einschließen und nie wieder loslassen. Aber wir stärken sie mit einer letzten Umarmung zum Abschied - und schicken sie hinaus in die Welt, damit sie neue Menschen umarmen, das Leben umarmen können. Ihr Glück finden - ohne uns.

Auch diese Umarmungen sind wichtig - denn sie ermöglichen neues Leben. Aber sie lassen uns einsam zurück. Ein Risiko, das wir eingehen.

So wie Noomi.

Da erhoben sie ihre Stimme und weinten noch mehr. Und Orpa küsste ihre Schwiegermutter, Rut aber ließ nicht von ihr. Noomi aber sprach: Siehe, deine Schwägerin ist umgekehrt zu ihrem Volk und zu ihrem Gott; kehre auch du um. Aber Rut antwortete: Bedränge mich nicht, dass ich dich verlassen und von dir umkehren sollte. Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben sein. Nur der Tod wird mich und dich scheiden.

Als Noomi nun sah, dass sie festen Sinnes war, mit ihr zu gehen, ließ sie ab, ihr zuzureden. So gingen die beiden miteinander, bis sie nach Bethlehem kamen.

Ein wahrer Weltknuddeltag - zumindest für Rut und Noomi. Tag der gegenseitigen Umarmungen. Aus Liebe gegeben und mit einem Versprechen besiegelt. Rut schafft es, die Umarmung in die Tat umzusetzen. Sie überschreitet äußerlich die Grenze ihrer Heimat und geht mit Naomi in die Fremde. Sie überschreitet innerlich alles, was sie von Naomi trennt und kann so ihr Leben mit ihr teilen.

Rut und Naomi haben Glück - ihnen sind diese Umarmungen möglich. Sie können sie geben und empfangen.

Anders als wir.

Uns sind echte Umarmungen zur Zeit verboten - oder zumindest unerwünscht. Es sei denn, wir leben im selben Haushalt. Doch auch dann kann es mau aussehen mit dem Umarmen: denn Kinder, die sich gestern noch in meine Arme eingekuschelt haben, sind heute schon in der Pubertät und weisen alles von sich - die eigenen Arme in deutlicher Abwehrhaltung ausgestreckt. Entgrenzung ist gerade nicht angesagt, eher das Gegenteil. Abgrenzung - zur Selbstfindung. Das ist normal und notwendig - und kann doch schmerzhaft sein - für alle Beteiligten.

Aber auch sonst darf ich nicht mehr umarmen - denn anstelle von Glücksgefühlen ist mit jedem körperlichen Kontakt Unsicherheit verbunden und Besorgnis um die eigene Gesundheit. Das, was eigentlich gesund und widerstandsfähig macht, erweist sich als größter Schwachpunkt, als potentielle Gefährdung. Zum gegenseitigen Schutz sollen wir unsere Grenzen wieder abstecken, neu aufbauen.

Auch das schmerzt - es macht einsam und hilflos.

Und doch gibt es Glückszeiten - Umarmungsmomente  wie bei Noomi. Nämlich Zeiten, in denen wir spüren, dass wir nicht alleine gelassen werden, sondern begleitet sind. Hilfe und Unterstützung haben. Getröstet werden und selbst Trost spenden.

Zeiten, in denen Taten das ausdrücken, was wir sonst der Umarmung überlassen.

Helfende Nachbarn, Freunde, die für uns einkaufen, zeigen: du kannst dich auf uns verlassen. Fühl dich umarmt.

Menschen, die uns zuhören, sich einlassen auf Gespräche,  vermitteln: Ich bin für dich da. Fühl dich gedrückt.

Unsere Besuche am Krankenbett oder im Pflegeheim lassen spüren: Du liegst mir am Herzen. Wir sind mit dir verbunden.

All das sind Handlungen, die Grenzen niederreißen.

Es sind die Umarmungen unserer Zeit.

Sie sind erlaubt - und in jedem Alter möglich.

Und sie zeigen: wir gehören zusammen, sind einander verbunden, auch in der Distanz.

Jedes Stück Wegbegleitung ist eine Umarmung, ein Schritt über Grenzen. Denn wir hören nicht nur zu - wir geben Gemeinschaft. Wir kassieren nicht nur ab, wir versorgen mit Lebens-mitteln. Wir besuchen nicht nur, wir lassen spüren, dass niemand vergessen ist.

Das was uns über die Grenzen trägt, ist nicht unsere eigene Kraft, nicht unser eigenes Können.

Sondern das, was  auch Rut an den Tag ihren Schritt ermöglicht hat: „Dein Volk ist mein Volk, dein Gott ist mein Gott.“

Für mich heißt das: Das, was uns trennt, zählt nicht mehr. Es zählt nur, dass wir in Christus miteinander verbunden sind - als sein Volk.

Er ist die Ursache für unser Leben und unser Tun. Unsere Umarmungen sind nur ein Abbild seiner grenzenlosen Liebe zu uns.

So predigen schaffen wir mit unseren Umarmungen, den echten  wie den anderen, einander das Evangelium: dass wir nämlich aus Glauben heraus leben - und hoffen und handeln. Und der ist eine Kraft Gottes - auch wenn unsere Kraft zur Neige geht, schaffen wir darauf Frucht.

Amen