Predigt zu Lk 9, 57-61 (Okuli – 15. März 2020)
Liebe Gemeinde,
es ist Freitag früh, 5.25 Uhr. Der Tag bricht an. Vor dem Fenster singt eine Amsel. Erst zögerlich, doch dann in melodischer Vielfalt. Es ist eine phantasievolle Amsel - mit virtuosen Tonfolgen. Überschwenglich und voller Frühlingsgefühle. Ohne Rückblick auf die Kälte der Nacht, den Regen der vergangenen Tage. Den Geschehnissen in der Menschwelt zum Trotz. Nur dem Hier und Jetzt verbunden. Voller Hoffnung auf die Zukunft.
Ich liege wach im Bett und denke an die Predigt. Der Text lässt mich nicht los. Im Überschwang meiner Gefühle habe ich schon zwei Fassungen geschrieben - und bin doch längst noch nicht fertig. Immer wieder kommt es etwas Neues dazu - ein anderer Aspekt, ein anderer Blick. Die Amsel erinnert mich an den Predigttext - der steht bei Lukas im 9. Kapitel:
Wenn die Hoffnung schwindet, wenn die Wirklichkeit meinen Lebensüberschwang bremst - dann ist doch gut, wenn wir einen Sündenbock haben. Wenn wir Gott verantwortlich machen können, der uns angeblich mit dem Virus für unsere Sünden bestraft.
Wenn wir eine Verschwörung verschiedener Gruppen und Mächte zusammenphantasieren, die sich zusammenrotten, um uns zu vernichten.
Wer wirklich und ernsthaft nachfolgen will, der lässt sich da herausrufen. Der widersteht dem Drang, für alle, was passiert, einen Sündenbock zu brauchen.
Und als sie auf dem Weg waren, sprach einer zu ihm (also zu Jesus): Ich will dir folgen, wohin du gehst.
Noch so einer im Überschwang seiner Frühlingsgefühle. Seiner ersten Begeisterung für diesen Jesus. Für seine Reden, seine Taten. Unbedacht zwitschert er los - ganz im Hier und Jetzt. Voller Enthusiasmus für die gemeinsame Zukunft mit seinem Hoffnungsträger.
Doch die Reaktion ist nicht, was er erwartet hat:
Denn Jesus sprach zu ihm: Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.
Knallharte Konfrontation mit der Wirklichkeit. So sieht es aus, dein Leben, wenn du mir folgst. Heimatlos, ohne Dach über dem Kopf. Keine schützenden Kirchenmauern um dich. Ausgesetzt den Widrigkeiten des Lebens.
Als ich soweit mit meinen Gedanken bin, kommt die Müllabfuhr. Mit lautem Getöse schleicht sie vor unserem Haus, dröhnend und scheppernd klappt die Tonne hinten auf und zu. Die Wirklichkeit holt mich aus dem Text zurück. Hat sich gegen mich verschworen.
Die Amsel ist still. Der Lärm hat ihre Begeisterung übertönt und ihren Gesang an die Hoffnung verstummen lassen.
Der begeisterte Jesus-Enthusiast ist auch verstummt - seine Antwort so leise, dass wir sie nicht hören können. Seine Reaktion ist nicht überliefert.
Was haben wir der Realität entgegenzusetzen, wenn sie über uns hereinbricht?
Wenn ein Virus uns lahmlegt, wenn alles, was das Leben an Gemeinschaft und Miteinander erst so richtig zum Klingen bringt, plötzlich potentiell gefährlich ist? Wenn wir spüren, wie zerbrechlich unsere vermeintlichen Sicherheiten sind? Wie hilflos wir sind, wenn unser altes Leben rissig wird und spröde - und das Neue erst noch werden muss? Eine unbekannte Größe ist, unplanbar?
Bleibt dann von unserer Lebensmelodie nur noch ein hysterischer Rest? Oder reicht unser Glauben nur noch für wilde Verschwörungstheorien aus, die über WhatsApp verteilt werden?
Die Amsel schweigt noch immer. Innerlich rufe ich ihr zu: Fang wieder an zu singen. Gönne mir noch einen Moment deiner unbelasteten Hoffnung. Deines lebendigen Überschwangs.
Die Stille lähmt - so erdrückend wirkt sie.
Meine Gedanken schweifen wieder zurück zum Text. Ich habe ihn mittlerweile so oft gelesen, dass ich ihn fast auswendig kann:
Und er sprach zu einem anderen: Folge mir nach!
Da ist er, der Ruf in all meiner Ratlosigkeit. Durchbricht mein eigenes Schweigen:
Das Leben hört nicht auf, auch wenn du mal nicht weiter weißt. Ich rufe dich auch jetzt - und gerade jetzt. Erinnere dich an meine Hoffnung. Erzähle dir von meiner Zukunft, in der Wolf und Lamm beieinander wohnen. Male dir Bilder von Leben und von Bewahrung. Also komm und folge mir nach.
Der sprach aber: Herr, erlaube mir, dass ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. Er aber sprach zu ihm: Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes.
Das, was uns ausmacht - als Gemeinschaft, als Gesellschaft - das, was unser Leben prägt, unseren Alltag bestimmt - das fühlt sich an, als trügen wir es zu Grabe. Schulen und Kindergärten geschlossen, soziale Kontakte auf ein Minimum reduziert - das Leben ist wie tot.
Aber wir sind es nicht. Wir sind nicht die Totengräber, die das Grab zuschaufeln.
Sondern wir sind die Hoffnungsträger. Damit wir unser Leben, unsere Gemeinschaft in ihrer Lebendigkeit am Leben erhalten. Indem wir jetzt durch einen Tod hindurchgehen - um die Hoffnung wieder auferstehen zu lassen.
Und so das Reich Gottes verkünden können.
Denn das ist es, was dieses Reich Gottes ausmacht: Dass am Ende die Hoffnung siegt über unsere Unsicherheiten und Hilflosigkeiten.
Und wir verkünden es jetzt und heute - indem wir keine Panikmache verbreiten und keine Weltuntergangsszenarien ausmalen. Sondern unsere Verantwortung für unsere Welt, für Gottes Schöpfung wahrnehmen: sie bewahren, dadurch, dass wir füreinander einstehen, unserer Fürsorgepflicht nachkommen - für die Schwachen, für die Gefährdeten.
Und so als christliche Gemeinschaft neues Leben erfahren.
Manchmal glauben wir, dass uns andere Pflichten und Verantwortungen an dieser einen großen Verpflichtung hindern.
Und ein anderer sprach: Herr, ich will dir nachfolgen, aber erlaube mir zuvor, dass ich Abschied nehme von denen, die in meinem Hause sind. Jesus aber sprach zu ihm: Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.
Wir sind keine beziehungslosen Kapseln, die kontakt- und verantwortungslos durch das Leben schweben.
Wir haben Verantwortung für uns, für andere. Wir sind geliebt und lieben wieder.
Aber wenn wir glauben, diese Liebe zurücklassen zu müssen, um vorwärts zu gehen, dann sind wir nicht geschickt zu Hoffnung und Leben.
Sondern sind selbst toter Teil dessen, was wir begraben haben.
Statt dessen ist es doch genau die Liebe in meinem Leben, die mich hoffen lässt. Die mich Wege in die Zukunft suchen lässt. Die mir die Kraft gibt, meine Herausforderungen zu beackern und sie zu bewältigen.
Wir haben Verantwortung für uns, für andere. Wir sind geliebt und lieben wieder.
Aber wenn wir diese Verantwortung nur dadurch leben, dass wir zurückblicken - dass wir dem Leben nachtrauern und nur im Hier und Jetzt verhaftet sind - dann bleiben wir stehen. Haben nicht genug Kraft, den Pflug herunter zu drücken und weitergehen.
Dann sind wir nicht geschickt zum Reich Gottes.
Wir gehen oft solche Wege. Wollen vorwärts - und bleiben doch stehen, um zurück zu blicken. Weil es gut war in der Vergangenheit. Weil es besser war, früher.
Weil das Leid so groß war, dass es mich heute noch niederdrückt, mir immer noch die Schritte schwer wie Blei macht. Dass ich meine Augen immer noch vor der Zukunft verschließe.
Dann sind wir nicht geschickt zum Reich Gottes, weil wir selbst keine Hoffnung haben. Wir können nicht verkünden und nicht weitergeben, was uns fehlt.
Was uns diese Hoffnung zurückgibt, ist die Bewegung, das Handeln. Nicht im Zustand des Rückblickens verharren. Sondern weitergehen. Nicht angstvoll die Vergangenheit beschwören - sondern nach vorne schauen. Dem Ruf Jesu in die Hoffnung, in die Zukunft folgen.
Und an diese Zukunft glauben - auch wenn alles dagegen spricht.
Dann verkünden wir ein Stück vom Reich Gottes - mit unserer wiedererwachten Hoffnung. Unserem Tun und Handeln.
Auch wenn sich das Leben gegen uns verschworen hat.
Denn das Leben durchbricht auch das lähmende Schweigen. Die Amsel fängt wieder an, zu singen. Phantasievoll und virtuos. Vielleicht ohne den alten Überschwang - aber mit neuer Kraft. Mit neuer Hoffnung.
Und wir sind geschickt zum Reich Gottes Amen!