Predigt zu Apg 6, 1-7
Ach, früher war alles besser - Ich höre ihn oft, diesen Satz.
Meistens bei Geburtstagsfeiern, wenn Erinnerungen erzählt werden - von der eigenen Jugend, der Kindheit, der ersten Liebe. Erinnerungen aus tatkräftigen Zeiten, in denen Krankheit und Alter weit weg waren. Da war die Welt noch in Ordnung.
Ein Stück Verklärung in geänderter Realität - auch wenn es nicht immer stimmt. Auch wenn früher natürlich nicht alles besser war - und schon gar nicht immer. Jede Zeit hat ihr Probleme und jedes Alter seine Schwierigkeiten.
Ach, früher war alles besser - auch von der Kirche handelt er, dieser Satz.
Früher, als die Kirchen noch voll waren. Als noch jede Gemeinde ihren Pfarrer hatte und nicht einer für 10 Dörfer zuständig war. Als die Kirche noch im Dorf geblieben ist und sich nicht ständig in die Politik eingemischt hat. Da war die Welt noch in Ordnung.
Aber auch das ist ein Märchen - denn die Welt war nie in Ordnung. Und die Kirche nie voller weltentrückter Heiliger - sondern immer voller Menschen.
Und wo Menschen sind, gibt es Probleme - und Versuche, sie zu lösen. Auch schon damals, als alles begann:
„In diesen Tagen aber, als die Zahl der Jünger zunahm, erhob sich ein Murren unter den griechischen in der Gemeinde gegen die hebräischen, weil ihre Witwen übersehen wurden bei der täglichen Versorgung.“
Unzufriedenheit allerorten - nichts läuft, wie es soll.
Ich kann es mir richtig vorstellen, höre die Stimmen, die aufbegehren: erst leise, unterschwellig. Hier und da ein Ton, aber nicht richtig zuzuordnen, zu schwach, um gehört zu werden. Dann werden es mehr, der Ton wird lauter. Der Hunger wächst, die Menge der Unzufriedenen auch. Die, die es angeht, sind alle da - aber sie sind umgeben von anderen. Die sich ihre Sache zu eigen machen, ernsthaft besorgt um ihr Wohlergehen.
Aber es gibt auch andere Stimmen - vielleicht die, die am lautesten tönen. Die selbst keine Probleme haben, denen es gut geht - aber die sich dem Protest anschließen, die aufbegehren aus Lust am Schreien. Denen es Spaß macht, Unruhe zu stiften. Vielleicht hat jeder von ihnen sich schon eine eigene Theorie zurecht gelegt, eigene Fakten geschaffen.
Und dazwischen sind die anderen zu hören - die Sorglosen. Die die Ängste für übertrieben halten, nicht wirklich an echten Hunger glauben. Weil er zu weit weg ist von ihrem eigenen Leben.
All diese Stimmen vereinen sich zu einem gemeinsamen Murren um der Witwen willen.
Die Gemeindeleiter hören die Stimmen - sie erkennen die echte Besorgnis und können die falschen Töne herausfiltern. Trotzdem hören sie zu. Und handeln.
Denn die ganze Sache mit dem Evangelium nützt nichts, wenn der Hunger nagt. Der Mensch lebt aus dem Wort und nicht vom Brot allein - aber ohne Brot eben auch nicht.
Die Probleme sind dieselben - damals wie heute.
Und damals wie heute muss sich auch die Kirche mit ganz weltlichen Problemen herumschlagen. Ein höchst weltliches Problem - Hunger und Ausgrenzung - schlägt sich nieder. Tatkräftige Hilfe tut not.
„Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: Es ist nicht recht, dass wir für die Mahlzeiten sorgen und darüber das Wort Gottes vernachlässigen.
Die Reaktion: auch das hat sich bis heute nicht geändert ein: erst mal wird ein Ausschuss gebildet. Die Zwölf werden beauftragt, die ersten Jünger Jesu werden herausgeholt aus ihrer Tätigkeit, abgehalten von ihren Predigten, ihren Erzählungen. Damit sie beraten, eine Lösung finden. Ihr Dienst wird durch das Murren und Meckern der ewig Unzufriedenen gestört - so scheint es auf den ersten Blick.
Auch heute legt sich diese Vermutung nahe - bei einem ersten Blick auf die Nachrichten der vergangenen Tage und Wochen. Da es gibt es Parties, durchgeführt von jungen Leuten, die allein deswegen kriminalisiert werden und deren altersbedingte Sorglosigkeit zu einem Politikum wird.
Demonstrationen, die durchgeführt werden von einem Gemenge aus ernsthaft besorgten Bürgern, die die demokratischen Freiheit in Gefahr sehen und verworrenen Phantasten, die mit Allmachtsphantasien oder unausgegorenen Theorien ihrer Menschenverachtung freien Lauf lassen und dabei Lügen und Angst verbreiten.
Das Murren und Meckern hat besondere Dimensionen angenommen. Die echte Sorge wird übertönt von zurechtgezimmerten Fakten und übertüncht von schreiend-bunten Bildern einer parallelen Wirklichkeit aus Verschwörungsszenarien und Panikmache.
Und der Dienst der Amtsträger wird dadurch gestört - so scheint es zumindest.
Denn sie lassen sich stören - reagieren wie auf eine Störung, die beseitigt werden muss.
Als vermeintliche Lösung werden Verbote ausgesprochen, wird versucht, das Meckern und Murren zu unterdrücken. Dabei ist der wahre Schatz der Demokratie nicht die erzwungen-harmonische Ruhe, sondern die stete Dynamik unserer Freiheitsrechte. Die ganze Sache mit dem Infektionsschutz nützt nichts, wenn die Unsicherheit nagt. Der demokratische Mensch lebt nicht von der Freiheit allein - aber ohne sie eben auch nicht.
Der Dienst der Amtsträger aber wird dadurch nicht gestört - er wird in Anspruch genommen. Denn er liegt doch genau darin: in der Balance zwischen Recht des Einzelnen und Gesetz des Staates.
Auch der Dienst der Zwölf wird nicht wirklich gestört durch das Murren und Meckern der Unzufriedenen.
Denn es ruft nur in Erinnerung, was Auftrag des Evangeliums ist, nämlich was Christus spricht: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan." Murren und Meckern erinnern daran, dass es eine Verkündigung ohne Tun nicht gibt.
Also wird eine Lösung gefunden - überraschend schnell und überraschend anders als bei so vielen anderen Ausschüssen:
Darum, ihr lieben Brüder, seht euch um nach sieben Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll heiligen Geistes und Weisheit sind, die wir bestellen wollen zu diesem Dienst. Wir aber wollen ganz beim Gebt und beim Dienst des Wortes bleiben.“
Das Murren und Meckern hat Früchte getragen. Und es sind bemerkenswert pragmatische Früchte, gewachsen auf Einsicht und dem Wunsch, tatsächlich Abhilfe zu schaffen, die echten Sorgen zu mildern.
Es werden keine beschwichtigenden Reden gehalten, keine beschönigenden Statistiken auf den Tisch gelegt, die zeigen, dass eigentlich doch alles ganz anders ist.
Es werden auch die unliebsamen Meckerer nicht einfach kaltgestellt oder totgeschwiegen. Nicht das Murren wird unterdrückt, sondern die Ursache beseitigt.
Die, die verantwortlich sind, haben sich der Unzufriedenheit gestellt. Sie haben sich mit ihr auseinander gesetzt, sind ihr auf den Grund gegangen. Sie haben das Meckern nicht verboten, sondern seinen Inhalt am Evangelium gemessen. Und dabei festgestellt: Wir können es nicht alleine - wir brauchen Hilfe. Wir können Verkündigung und Werk nicht gegeneinander ausspielen. Beides ist wichtig, beides gehört zusammen. Das Wort stillt den geistlichen Hunger - aber der Mensch braucht eben auch Brot zum Leben. Und das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg zeigt: Gottes Gerechtigkeit heißt nicht: jedem dasselbe, sondern: Jedem das, was er zum Leben braucht.
Da nützt es nichts, den Pflegekräften in den Krankenhäusern, den Einsatz- und Rettungskräften auf unseren Straßen einen warmen Applaus zu spenden und in schöngeistigen Dankesreden ihre Nächstenliebe zu loben - ohne dafür zu sorgen, dass sie ihr tägliches Auskommen haben.
Und es reicht nicht, in ausgefeilten Gottesdiensten für die Schöpfung zu danken, ohne den Mut zu haben, auch als Kirche für ihren Fortbestand einzutreten.
Es ist aber auch nicht genug, seine Unzufriedenheit und Weltangst laut herauszuschreien ohne die Bereitschaft, Lösungsvorschläge anzunehmen.
Es geht nicht an, in obskuren Verschwörungsszenarien Verhalten als menschenverachtend zu verurteilen, ohne auch das eigene Verhalten an den Rechten anderer zu messen und daran auszurichten.
Und auch die eigene Sorglosigkeit darf nicht zur erdrückenden Sorge für andere werden.
Die letzten Wochen zeigen, dass unsere Worte und unser Handeln auch immer nicht nur uns betreffen, sondern alle um uns herum. Manchmal sogar die ganze Gesellschaft.
Und deswegen ist es auch wichtig, was wir als Kirche, als Gemeinschaft der Heiligen, als gläubige Demokraten und christliche Demonstranten sagen und tun.
Und welchem Wort wir uns dabei unterstellen - dem des Evangeliums oder dem dessen, der am lautesten schreit.
Ich weiß: Kirche und Politik, das geht für viele nicht zusammen. Und vielleicht lässt sich auch mit der Bergpredigt allein wirklich keine Politik machen.
Aber der Ausschuss der Zwölf war eine der ersten politischen Aktionen unserer Kirche. Und er zeigt, dass es nicht reicht, sich auf unsere Kirchenbänke zurückzuziehen und dem Wort zu lauschen. Soziale Gerechtigkeit und gesellschaftliches Zusammenleben sind nicht nur eine politische, sondern vor allem eine geistliche Angelegenheit. Und genau deswegen ureigene Angelegenheit auch der Kirche.
Denn:
Der wahre Schatz der Demokratie ist die brüchige Balance zwischen meiner Freiheit und dem Recht des anderen.
Aber der wahre Schatz von uns Christen ist nicht die Zustimmungsrate der Gesellschaft, sondern das Evangelium. Der Dienst am Wort durch unsere Worte und Taten.
In einem gemeinsamen Geist. Der uns hilft, die echten von den falschen Sorgen zu unterscheiden. Der uns Lösungswege aufzeigt, die die Menschen zueinander bringen und aufeinander achten lassen.
Er ist es, der uns hilft, Gottes Gerechtigkeit im Blick zu haben. Die jedem das Seine gibt und das, was er braucht: den Bedürftigen die Hilfe, den allzu Sorglosen einen Blick für die Belange der Ängstlichen. Und den Schreihälsen und Unruhestiftern die Nichtbeachtung, die ihr Anliegen verdient.
Diesen Geist kennen wir Christen als den Heiligen Geist. Er ist es, der in Jerusalem weht, als die Kirche in den Kinderschuhen ist. Und er ist es, der in unseren Gemeindeversammlungen weht, sich in unserer Gemeinschaft artikuliert. In Wort und Tat. Im Murren und Meckern genauso wie im Handeln.
Der Geist ist es, der uns alle zum Dienst am Wort befähigt - und uns hilft, unsere Entscheidungen und unser Tun diesem Dienst unterzuordnen. Und uns alle miteinander in die gleiche Richtung laufen lässt - als Jünger und Priester des Wortes.
Amen.