Quasimodogeniti, 19. April

Glaube im Exil

https://www.youtube.com/watch?v=77mi8geFYdY

26 Hebt eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat all dies geschaffen? Er führt ihr Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, dass nicht eins von ihnen fehlt.

27 Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: »Mein Weg ist dem Herrn verborgen, und mein Recht geht an meinem Gott vorüber«?

 28 Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der Herr, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich.

 29 Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden.

 30 Jünglinge werden müde und matt, und Männer straucheln und fallen;

 31 aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden (Jesaja 40)

Plötzlich war es soweit. Plötzlich ist alles anders.

Das Leben ist anders.

Schockstarre ist eingetreten - und ihr Zustand hält an.

Die alten Gewohnheiten, die alten Freiheiten - es gibt sie nicht mehr.

Nachbarn treffen sich nicht mehr abends auf der Bank vor dem Haus. Großeltern leben getrennt von ihren Familien. Angst beherrscht den Alltag.

Materiell geht es gut - zumindest nicht schlecht.

Aber die Seele leidet. Im neuen Alltag bleibt Gott auf der Strecke. Für das neues System ist Gott ohne Bedeutung und seine Priester sind nicht relevant.

Es gibt keine Gottesdienste, keine religiösen Zusammenkünfte.

Der Tempel ist zerstört, die Gemeinde in alle vier Winde zerstreut.

Israel lebt im Exil.

Babylon, der Feind aus dem Osten, hat das Land verwüstet, den Tod mit sich gebracht und bestimmt das restliche Leben. Jerusalem, die Hauptstadt, ist verlassen - zumindest scheint es so. Die Straßen sind leer gefegt. Ein Großteil der Bewohner ist tot oder deportiert. Die Häuser der Zurückgelassenen fest verschlossen. Die Angst geht um, dass der Feind wieder zurückkehrt. Und die Hirten der Menschen - ihre Priester, ihr König - sind in Babylon.

Aber alle - egal, ob in Israel oder in Babylon - treibt die Frage um: Wie lange dauert dieser Zustand noch? Wie lange sind wir von dem getrennt, was uns lieb ist? Wie lange müssen wir ausharren, bis uns der Feind aus seinen Fängen lässt.?

Und wie sollen leben in der Zwischenzeit? Wo ist Gott, wenn wir nicht mehr in den Tempel können? Woher kommt uns Hilfe?

Liebe Gemeinde,

in den letzten Tagen habe ich erst so richtig verstanden, wie schwierig dieses Leben gewesen sein muss. Nicht, weil des den Menschen schlecht ging. Im Gegenteil. Ins Exil geführt wurden vor allem Mitglieder der Oberschicht, die Wohlhabenden und die Ausgebildeten. Die Handwerker, deren Können auch in der Fremde begehrt war. Materielle Not war nicht das Problem. Aber die Menschen haben ihre Mitte verloren, ihr religiöses Zentrum. Ihnen wurde durch die Katastrophe das genommen, was sie als Volk, als Gottes Gemeinschaft ausmacht.

Es gibt keinen Ort mehr, an dem sie Gott begegnen können. Gott ist tot - die Götter des Feindes haben gewonnen.

Ein bisschen ist das wie bei uns. Auch wir leben immer noch in Schockstarre - denn auch wir haben als Gemeinde unsere  Mitte verloren.

Auch unsere Freiheit ist uns genommen. Auch unsere Gottesdienste sind verboten. Unsere Zeitgeber und unsere Begegnungsstätte.

Das ist unsere Schockstarre - die Erkenntnis:

Kirche an sich ist nicht systemrelevant. Sondern nur in ihrer Funktion für die Gesellschaft - in Kindergärten, Pflege, der Diakonie.

Seelsorge und Begleitung von Menschen an sich sind nicht systemrelevant. Das zeigt sich in dem Widerstreben der Politik, Gottesdienste wieder stattfinden zu lassen. Da haben uns die Friseure und Baumärkte einiges voraus. Und dabei geht es im Gottesdienst um so viel mehr als um die Pflege des eigenen Ichs. Um mehr als die Renovierung der eigenen Fassade. Gottesdienste sind eine Grundversorgung - denn sie gehören zur Grundausstattung von uns Christen.

Zugegeben, in keinem Gottesdienst stehen Menschen Schlange, um hineinzukommen (höchstens an Weihnachten). Aber sie versorgen uns mit dem, was wir an Stärkung brauchen, an Gemeinschaft und an Zuspruch. Gemeinsam gegen Einsam - diese Initiative gibt es in Kreuzwertheim schon viele Jahre. Sie leuchtet ein. Der Name leuchtet ein.

Gottesdienste aber sind nichts anderes als ebendas: Gemeinsam gegen Einsam. Gemeinsam glauben gegen die eigene Glaubenseinsamkeit, die eigene Glaubensarmut. Immer nur auf mich selbst und meine Deutung angewiesen, ist mein Glaube wie eine Quelle, die allmählich versiegt. Ich brauche die Impulse von außen, lebendige Glaubensgemeinschaft - um meinen Glauben lebendig zu halten.

Eine Gemeinde ohne Gottesdienste wird tote Gemeinde.

Die katholischen Bischöfe haben das verstanden - und treten ein für neues Leben in der Kirche. Nicht aus Selbstnutz oder dem Bedürfnis eigener Wichtigkeit. Sondern weil jeder Gottesdienst uns mit dem in Berührung bringt, was unser Leben übersteigt. Weil jeder Gottesdienst unsere Perspektive weitet und Hoffnung bringt.

Gerade jetzt: Gemeinsam gegen Einsam.

Unsere eigene Kirche aber schweigt. Sie unterstützt das derzeitige System.

Glaube und Religion aber sind nicht systemrelevant. Nicht mehr. Waren es vielleicht nie.

Vielleicht ist das sogar ganz gut so - denn dadurch sind wir gezwungen, neue Wege zu gehen. Uns neu als Gemeinde zu finden und zu begreifen. 

Das Volk Israel im Exil ist diesen Weg gegangen - und es hat sich aus dieser Zeit ein Jahrtausende dauerndes lebendiges Glaubensleben bewahrt. Anders als vorher. Aber inspiriert und standfest und lebensfähig - bis heute.

Und auch wir sollten diesen Weg gehen - und darüber nachdenken, wieso wir eigentlich Gottesdienst feiern. Nämlich nicht als Dienst an Gott. Sondern als Gottes Dienst an uns Menschen. Der uns fühlen und erfahren lässt, wie Gott an uns handelt. Dass er sich uns zuwendet und uns in Gemeinschaft führt. Dass er uns Trost zuspricht und Zuversicht - aber auch unsere Grenzen aufzeigt.

Jeder Gottesdienst ist eine lebendige Bewegung, die Gott hinein in die Welt macht - und die Welt streckt sich ihm entgegen.

Und nur aus dieser Bewegung heraus können wir unsere systemrelevanten Bereiche mit Leben erfüllen. Nur aus dieser Bewegung heraus leben unsere Kindergärten, unsere diakonischen Einrichtungen. Nur aus dieser Bewegung heraus leben wir aufeinander zu und nehmen einander wahr.

Nur aus dieser Bewegung heraus hat der Gottesdienst seinen Ursprung und seine Berechtigung.

Diese Bewegung ist eine Freiheitsbewegung - und so sind alle unsere Gottesdienste Akte unserer Freiheit. Nicht nur Ausdruck unseres Grundrechts auf Religionsfreiheit. Sondern auch und vor allem Zeichen unserer Freiheit als Gotteskinder. Zeichen unserer Freiheit, nicht die Trübsal und den Kampf der Welt, sondern Gott als die letzte Wirklichkeit anzuerkennen.

Dabei ist nicht wichtig, wo wir Gottesdienst feiern - in der Kirche, zu Hause oder im Freien.

Wichtig ist nur, dass wir in Bewegung bleiben.

Nicht in der Schockstarre verharren - sondern uns von Gott bewegen lassen, mit ihm gemeinsam auf die Welt zuzugehen.

Dann nämlich  gibt er dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden.

Jünglinge werden müde und matt, und Männer straucheln und fallen;

aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.

Amen.

Stephanie Wegner

 

Wir beten:

Gott,

du unserer Hoffnung Hoffnung,

worauf sollen wir bauen,

wenn nicht auf den Grund,

den du legst

in Jesus Christus.

 

Wir danken dir,

dass unsere Hoffnung

immer wieder neu Nahrung erhält

durch das Miteinander in der Gemeinde,

durch erste gute Nachrichten,

durch die Genesung schon vieler vormals Infizierter,

durch in den Medien übertragene Feier

und durch eigene Stille,

durch Liebe und Dienst,

durch neue Ideen und gereifte Erfahrung,

durch Gebet und Hingabe.

 

So reicht unsere Hoffnung

weit über den Glauben des Einzelnen hinaus.

So kennt unsere Hoffnung

keine Grenzen und Mauern.

So wird einer zur Stütze des anderen.

 

Gott,

du unserer Hoffnung Hoffnung,

stärke unsere Gemeinschaft.

Amen.

 

(Gerhard Engelsberger)